Etwa 1000 Menschen in Aurich haben zum 500. Jahrestag der Reformation über Konfessionsgrenzen hinweg ein Ausrufezeichen für das Christsein gesetzt. Am Festgottesdienst in der Lambertikirche beteiligten sich rund 700 Gläubige; mehrere hundert Christen hatten zuvor das Wandelkonzert begleitet, bei dem Teile des Pop-Oratoriums über Martin Luther an vier Stationen in der Stadt aufgeführt wurden. Superintendent Tido Janssen, der die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum mit Kreiskantor Maxim Polijakowski erdacht und mit vielen Helfern vorbereitet hatte, zeigte sich überwältigt von der Resonanz: „Das war ein glücklicher Tag für mich, er war geprägt vom Miteinander.“ Polijakowski sah seine Erwartungen übertroffen: „Dass so viel zurück gekommen ist, macht mich mehr als zufrieden“, strahlte der Kreiskantor.
Schon der „Güterschuppen“ des Gymnasiums Ulricianum platzte fast aus allen Nähten, als immer mehr Christen hinein strömten, um den Auftakt des Wandelkonzertes mitzuerleben. „So etwas gab es in Aurich noch nie“, begrüßte Tido Janssen die etwa 300 Besucher und wies auf die besondere Veranstaltungsform für das Reformationsjubiläum hin. An zwei weltlichen Orten, dem „Güterschuppen“ und dem Rathaus, und an zwei geistlichen Orten, der katholischen und der reformierten Kirche, verdeutlichten Redner, wie die Reformation die Menschen und die Welt um sie herum verändert hat.
Weil die Musik auch eine Spezialität der Reformation ist, stand sie besonders im Mittelpunkt. Beteiligt am Wandelkonzert waren Mitglieder aus den Chören Heaven's Voice Moordorf, Swinging Matthews Wallinghausen, Gospelchor Mittegroßefehn und Good News Aurich, begleitet von der Lambertiband. Es war auch eine logistische Aufgabe, Menschen und Material von Station zu Station zu bewegen. Die erforderliche Technik, vom Schlagzeug bis zum Notenständer, musste mehrmals abgebaut und wieder aufgebaut werden. „Es lief wie am Schnürchen“, freute sich Polijakowski.
Im „Güterschuppen“ redete Lutherkenner Pastor Andreas Scheepker zum Thema „Reformation und Bildung“. Scheepker machte deutlich, dass gebildete Menschen die Reformation vorantrieben, die wiederum eine Bildungsbewegung bis in die unteren Schichten der Bevölkerung hinein in Gang setzte. Gute Bildung, sagte Scheepker, sei heute ein wesentlicher Grundpfeiler der Demokratie.
Weiter ging es zur nächsten Station, zum Rathaus. Pastor Peter Schröder-Ellies und seine Tochter Berit lotsten in Warnwesten die große Schar der Christen über die Von-Jhering-Straße. Es war ein überwältigender Anblick, als diese Menschenmenge sich durch die bis dahin nur spärlich belebte Fußgängerzone schob. Im Rathaus war Bürgermeister Heinz-Werner Windhorst der Gastgeber. Er sprach zum Thema „Reformation und Macht“. Die Reformation bewirkte eine Trennung von Kirche und Staat, „verbunden mit der Absage an Untertänigkeit“, betonte Windhorst und stellte die Selbstverwaltung auch der Stadt Aurich auf Grundlage von Recht und Gesetz heraus.
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus steht die katholische St.-Ludgerus-Kirche. In früheren Zeiten hätten Lutheraner, Reformierte und Freie Christen einen großen Bogen um dieses Gebäude gemacht. Die Zeiten sind – Gott sei dank – vorbei. Dechant Johannes Ehrenbrink hieß die protestantischen Christen willkommen. Für Tido Janssen ein einzigartiger Vorgang: „In der katholischen Kirche zu sein an diesem Tag ist das größte Wunder. Das wäre vor hundert Jahren undenkbar gewesen.“
Ehrenbrink sprach zum Thema „Reformation und Glaube“ und stellte das heraus, was protestantische und katholische Christen verbindet. In Aurich hat sich zwischen den Christen unterschiedlicher Konfession mittlerweile ein starkes verbindendes Band entwickelt. Die Zusammenarbeit in der Ökumene ist von guter Nachbarschaft … ja, von Freundschaft geprägt. Das bejahte auch Horst Stamm, er sitzt im Kirchenvorstand der Auricher St.-Ludgerus-Kirche. Er betonte das freundschaftliche Miteinander. Und das geht so weit, dass katholische Christen ihre wichtigen Sakramentsfeste wie Firmung und Erste heilige Kommunion in der Lambertikirche feiern, weil sie mehr Platz bietet.
Letzte Station des Wandelkonzertes war die reformierte Kirche. Dort überreichte der Küster nicht ohne Grund jedem Besucher einen Nagel. Jörg Schmid sprach zum Thema „Reformation und Frieden“. Er schlüpfte in die Rolle eines Nagels, mit dem 1517 die Thesen angeschlagen wurden, und zeigte auf, dass Luther auch immer zu Toleranz, Aussöhnung und Nächstenliebe aufgerufen hat, er also einer der ersten friedensbewegten Deutschen war.
Einen Steinwurf entfernt von der reformierten Kirche liegt die Lambertikirche. Dort gab es zum Abschluss des Reformationsgedenkens einen Festgottesdienst, der besinnlich war, vielfach zum Nachdenken anregte und ein schönes starkes Gefühl aufkommen ließ: das Gefühl, einer von guten Werten geprägten Gemeinschaft, einer christlichen Gemeinschaft anzugehören.
Musikalischer Höhepunkt war die Kantate „Gott, der Herr, ist Sonn und Schild“ von Johann Sebastian Bach, aufgeführt von der Lambertikantorei und dem Ostfriesischen Kammerorchester mit den Solisten Lisa Sörös (Sopran), Ulrike Homrighausen (Alt) und Christian Meyer (Bass). Gleich mehrere geistliche Lieder intonierte die Bläserklasse 10A des Ulricianums unter der Leitung von Sebastian Berger. Dazwischen trugen Kea Irmer und Niko Kampmeier aus der Kirchenkreisjugend sowie Pastorinnen und Pastoren aus Aurich protestantische Gedanken von verstorbenen oder noch lebenden Deutschen vor: etwa von Johannes Rau oder Margot Käßmann.
„Luthers Tresen“ war derweil in zwei Ecken der Lambertikirche schon aufgebaut worden. Luther war ein Genussmensch und genehmigte sich gern „ein Kännlein Bier gegen den Teufel, ihn damit zu verachten“. Im westlichen Teil der Kirche zapfte Pastorin Cathrin Meenken das Bagbander Reformationsbier aus Zehn-Liter-Fässern als hätte sie das schon zig Mal gemacht. „Ich habe mich vorher im Internet informiert, wie's geht“, verriet sie mit einem Augenzwinkern. Das Bier schmeckte, ebenso die kleinen Köstlichkeiten aus der Bäckerei Meyer. Die Menschen blieben beisammen, unterhielten sich angeregt und blickten zurück auf einen gelungen Feiertag, der ein Ausrufezeichen für das Christsein gesetzt hat.